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„König der Sümpfe”

Gutereise am Samstag, 6 oktober 2001 nr 232, „König der Sümpfe”, autor: Franz Lerchenmüller

 

Sie ist der Amazonas Polens und eines der letzten intakten Flussgebiete Europas: An der Biebrza im Nordosten des Landes fühlen sich Elch und Biber zu Hause und alles andere, was den Sumpf als Überlebensraum zu schätzen weiß.  Seit acht Jahren ist die Gegend Nationalpark und damit großräumig geschützt.

Beim König zu nächtigen hat seinen Preis. Aber es ist jeden einzelnen der 50 Zlotys wert. Wann sonst schon schlummert man auf einer durchgelegenen Matratze, umgeben von Truhen, Milchkrügen und Holztrögen zum Abbrühen geschlachteter Schweine? Wo sonst wird man geweckt vom gellenden Trompeten der Kraniche am Waldrand, schüttet sich Wasser aus dem Ziehbrunnen ins Gesicht und trottet verschlafen über die feuchte Wiese zum Plumpsklo, den Blick hoch zum Strochennest, wo die beiden Jungen zum Frühstück an einer Schlange zerren und ziehen wie an zähen Spaghetti?

Drüben wartet schon der König. Ein Käsebrot zeischen Marienbildern, Mehlmörsern, Flizstiefeln und Elchschaufeln gefällig? Etwas Morgenphilosophie über den verabscheuungswürdigen Rummel in den Städten? Krzysztof Kawenczynski, der Einsiedler, den einst ein malender Freund an der Küchenwand als „König der Biebrza-Sümpfe” porträtierte, hat jede Menge Zeit für seine Gäste – jedenfalls für die, die er mag.

Als der 47-jährige Graukopf 1991 mit seinem Antiquariat in Warschau bankrott ging, kaufte er in Budy ein einsam gelegenes Bauernhäuschen. Eine andere Kate ließ er im Nachbardorf Balken für Balken auseinander nehmen und auf seinem Grundstück wieder aufbauen. Dort können jetzt Touristen übernachten, allenfalls vier pro Nacht – Unruhe schätzen Seine Majestät nicht.

Die Übernachtung im lebendigen Museum ist einer der Höhepunkte einer Reise durch die Biebrza-Sümpfe im Nordosten Polens, fast schon an der Grenze zu Weißrussland. Urlaub in der Sümpfen? In der Igitt-Landschaft, wo der Boden tückisch und trügerisch ist und der Nebel dem Wanderer zerfließende Irrbilder vorgaukelt? Aber ja.

1300 Quadratkilometer umfasst das Tal der 156 Kilometer langen Biebrza: ein landschaftlicher Flickenteppich aus feuchten Auen, Sumpfwiesen, Schilfgürteln, nassen Erlebruchwäldern und eingestreuten Sanddünen. Fast die Hälfte davon wurde 1993 zum Nationalpark erklärt.

Katarzyna Ramotowska, genannt Kate, ist in ihrem kleinen roten Polski-Fiat gekommen. Seit sieben Jahren arbeitet sie als Fremdenführerin, vor zwei Jahren hat sie sich mit ihrer Firma „Eco Travel” selbstständig gemacht: Geld verdienen, Arbeitsplätze schaffen. Die Gegend ist arm: Keinerlei Industrie, jeder Dritte arbeitslos. In den Dörfern wechseln verwitterte Holzhütten mit Häusern aus unverputzten Hohlblocksteinen.

Nur die Kirchen leuchten weiß daraus hervor, frisch renoviert oder neu gebaut. Man lebt von der Landwirtschaft auf mageren Böden, auf denen oft nur Roggen und Kartoffeln gedeihen, und Abnehmer gibt es dafür auch keine mehr, seit die Weißrussen ihre Grenzen sehr dicht gemacht haben.

Ein karger, selbst von Warschau vergessener Landstrich, sagen seine Bewohner – der aber doch einen beachtlichen Anteil vom begehrstesten Kapital des heutigen Tourismus besitzt: Natur. Kate führt ihre Besucher „in die Sümpfe” – die im Sommer aber austrocknen. Wo einem sonst das Wasser bis zum Knie reicht, stapft man dann trockenen Fußes durch eine ausgedörrte Steppe aus Grashöckern und gesprungenem grauenm Schlamm. Die Biebrza, der „Amazonas Europas”, die jeden Frühling Riesenflächen unter Wasser setzt, hat sich kleinlaut murmelnd in ihr gewundenes Bett zurückgezogen. Die zahllosen Störche, die ihre Nachwuchsplanung am Futterangebot ausrichten, ziehen dann höchstens zwei Junge groß.

Die Biebrza-Sümpfe sind, erstaunlich genug, eine Kulturlandschaft. Jahrhundertelang hielten die Bauern die Flusswiesen mit der Sense kurz und nutzten die Streu für ihre Kühe. Doch diese Arbeit – knietief im Wasser, unter einer glühenden Sonne, umschwirrt von Moskitos – mutet sich heute niemand mehr zu. Gemäht wird nur dort, wo die Traktoren hinkommen. Der Rest „verbuscht”: Weiden und Moosbirken wuchern, Schilf macht sich breit, Flecken um Flecken verschwinden der Leben sprendende Sumpf und die vogelfreundlichen Seggewiesein. Der World Wide Fund for Nature (WWF) und die Europäische Union versuchen gegenzusteuern: Bauern, die wieder die Sensen schwingen, sollen demnächst 500 Zloty pro Hektar gemähter Wiese erhalten, keine shlechte Bezahlung beim einem Durchschnittseinkommen von 1000 Zloty im Monat.

Der frühe Morgen ist wunderschön. Die Sonne meißelt die Konturen der Kiefern und Eichenbüsche deutlich hervor. Wie Periskope ragen die langen Hälse eines Kranichpaares aus dem Grasmeer. Eine Rohrweihe streicht elegant übers Schilf, eine Elchkuh erhebt sich träge beim Näherkommen und trottet unwillig davon.

„Rotschwirl”, flüstert Kate. „Rohrammer, Sprosse und Dornengrasmücke.” Doch das ungeübte Ohr vernimmt nur einen vielstimmigen Klangteppich aus Flöten, Glucksen, Schnalzen und Schlagen. Das wird sich ändern in den kommenden Tagen. Bald weiß der Neuling: Der Wachtelkönig knarrt wie eine alte Tür. Beim Ruf der Goldammer wird sonnenklar, woher Beethoven der Anfang seiner fünften Symphonie bezogen hat. 262 Arten von Vögeln wurden in den Biebrza-Sümpfen gezählt, 178 brüten hier auch, darunter so seltene wie Doppelschnepfe oder die Weißflügelseeschwalbe.

So viel Natur, so viele Überraschungen. Das Fernglas wird dem Besucher zum zweiten Paar Augen: Bei der Kajakfahrt über die Biebrza entdeckt er Fischotter und Schelladler. Nachts am Biberbau ziehen sich nach langem Warten endlich siberne Furchen durchs schwarze Wasser, im Ufergebüsch hört man das Knispeln nagender Zähne.

Mit Kate an der Seite wird die Natur zum offenen Buch. Und die Städter lernen zumindest buchstabieren. Aus weißen Knochen, ein paar Haarbüscheln und etwas Ausscheidung liest sie ein tierisches Drama ab: Ein junger Elch wurde geschlagen – von Wölfen, das zeigen die Kerbspuren der Zähne auf den Knochen. Es war Herbst – erst dann beginnen Wölfe nämlich gemeinsam zu jagen, einer allein aber hätte das Tier nicht erlegen können.

Doch auch andere Hinterlassenschaften finden sich im Sand der Dünen im „Roten Sumpf”: rostige Patronenhülsen, gezackte Granatsplitter. Hier, zwischen Sumpfblutauge und Gilbweiderich, kämpften 2000 SS-Leute gegen 800 polnische Partisanen. Auch an vielen anderen Stellen stolpert man über die Spuren der Geschichte. Das kleine Denkmal über dem Zusammenfluss von Biebrza und Narew, wo sich 1939 im September 700 polnische Soldaten gegen den Ansturm der 30 000 Mann starken deutschen Panzerarmee zur Wehr setzen, bis zum letzten Mann. Vor allem aber Tykocin. 2300 Juden lebten im Jahr 1941 in diesem Ort. Bis zum 25. und 25. Juni. Da wurden alle bis auf 150 im nahen Wald von Lupochowo von Deutschen umgebracht. Die zerstörte Synagoge wurde inzwischen wieder aufgebaut und ist alljährlich Ziel eines internationalen Friedensmarsches.

Ansonnsten verdämmert in Tykocin Polens einstiger Glanz. Die Grundmauern der Festung, eine barocke Kirche mit zwei großen Flügeln und das Kloster erinnern an das 16., 17,. 18. Jahrhundert, als die Stadt sogar zur Haupstadt Polens ernannt werden sollte. Heute verstauben die Tagetesbeete auf dem halb fertig umgebauten Zentralplatz, 40-Jährige mit schlechten Zähnen und freudlosen Augen, die wissen, dass sie ihre Zukunft hinter sich haben, sitzen auf Stufen und trinken Bier, die Jungen gehen weg.

Letzte Nacht im Reich des Königs von Biebrza. Im Feuer zischt Fett aus den Grillwürsten, ein Kiefernmarder spaziert selbstvergessen über die Lichtung, der Kuckuck grüßt verschlafen. Kate legt die Kassette mit Vogelstimmen ein und dreht auf höchste Lautstärke. Drei, vier dumpf drohende, hohle Rufe – schon antworten aus dem Wäldchen zwei wirlkiche Eulen. Es klingt für die Besucher aus den Städten wie Signale aus einer verlorenen Zeit. Fast ist sie hier noch Gegenwart.

 

Franz Lerchenmüller

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